Theologische Überlegungen

Egalitäre Theologie, eine Lösung oder nur ein Denkanstoss? (Mein vorläufig letzter Beitrag) 2024-12-28

In vielen meiner theologischen Überlegungen habe ich über das Bild Gottes geschrieben. Irgendwann während meines Theologiestudiums stieß ich auf einen Voltaire zugeschriebenen Ausspruch: „Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen, und seitdem versucht der Mensch, das Kompliment zu erwidern.“ Es ist ironisch, dass eines der ersten Gebote der abrahamitischen Religionen darin besteht, sich kein (graviertes) Bild von Gott zu machen, während das Alte und das Neue Testament sowie der Koran voller lebendiger Beschreibungen dessen sind, wie dieser Gott angeblich sein soll. Diese Beschreibungen wurden auf Pergament graviert und später (d. h. von gravierten Kupferplatten) in diese Bücher gedruckt und von dort aus, über etwa drei Jahrtausende, in unsere Köpfe.

Anstatt meinen Glauben zu stärken, wie es in einem Werbeslogan der theologischen Hochschule, an der ich eingeschrieben war, hieß, verlor ich das bisschen Glauben, das ich anfangs hatte. Das Studium der heiligen Schriften ließ mich zunehmend über den Widerspruch stutzen, dass Gott als liebevoll, barmherzig, allmächtig usw. bezeichnet wird, während diese Schriften gleichzeitig von all den von Gott gebilligten oder befohlenen Gräueltaten erzählt, die die Menschheit befielen und uns noch am Tag des Jüngsten Gerichts erwarten werden.

In einer seiner Predigten predigt Meister Eckhart gegen die Eigenschaften, die wir Gott zuschreiben. Er sagt, dass jede dieser Eigenschaften, einschließlich Liebe, Licht und Barmherzigkeit, eine Beleidigung dessen ist, was Gott wirklich ist. Dann nimmt er jede dieser Eigenschaften und widerlegt sie, um schließlich zu dem Schluss zu kommen, dass Gott, zumindest aus menschlicher Sicht, NICHT ist. Hier kommt Eckhart meiner Meinung nach dem östlichen Konzept des Nirvana verdächtig nahe.

Vor etwa zweiundzwanzig Jahren stieß ich auf das anonym verfasste Buch „Die Grossen Arkana des Tarot“ (Herder, Basel) Ich war (und bin immer noch) fasziniert von dem Ansatz, der die himmlischen oder spirituellen Hierarchien umfassend beschreibt, und fand überzeugende Gründe, der katholischen Kirche beizutreten, die diese himmlischen Hierarchien recht authentisch widerspiegelt. Sieben Jahre lang praktizierte ich treu den spirituellen, kontemplativen Weg der Benediktiner als laien- oder säkulares Mitglied des Benediktinerordens. Diese Zeit der Kontemplation verschaffte mir schöne und wertvolle Einsichten, die ich bis heute schätze. Mir wurde jedoch auch zunehmend bewusst, wie schädlich es ist, sich vorsätzlich oder aus Unwissenheit den unüberbrückbaren Konflikten zu entziehen, die aufgrund der zwischen der Liebe und Verdammnis enthaltenen Widersprüche bestehen bleiben werden. Daher kündigte ich offiziell meine Mitgliedschaft in der katholischen Kirche. 

Meine bisherigen theologischen Überlegungen mögen dem interessierten Leser einen Einblick in meine Einsichten und meine Zweifel geben. Vor einigen Monaten hatte ich nach einem Gespräch mit meinem Sohn Nicolas über den Marxismus und andere egalitäre Philosophien ein AHA-Erlebnis. Mir wurde klar, dass der Mensch nicht nur Gott nach seinem Bild „erschaffen“ hat, sondern auch die himmlischen Hierarchien. Mir wurde allmählich bewusst, dass Gott als Schöpfung der menschlichen Vorstellungskraft nichts besserem dient, als den immer noch bestehenden Einfluss des Patriarchats auf unsere Gesellschaft aufrechtzuerhalten (oder sogar zu rechtfertigen). Ob dieser Einfluss irgendwann nachlassen wird oder ob es sich nur um eine vorübergehende und regionale Erscheinung in unserer (hoffentlich immer noch) liberalen westlichen Kultur handelt, bleibt abzuwarten.

Angesichts der himmlischen Hierarchien, die die Grundlage für die meisten westlichen monotheistischen Religionen bilden, begann ich darüber nachzudenken, ob diese Hierarchien nicht auch ein von Menschen (Männern?) geschaffenes Bild sind, um die Machtstrukturen zu rechtfertigen, die die einfachen arbeitenden Menschen auf diesem Planeten gequält haben. Ein Gott, umgeben von Heerscharen (Armeen) von Engeln, die fein säuberlich nach „militärischen“ Rängen geordnet sind und in himmlischer Pracht leben, während viele von uns Menschen mühsam ums Überleben kämpfen, könnte einfach nur als Rechtfertigung für die Ungerechtigkeit der Fehlverteilung von Reichtum und Macht dienen. 

Meine Reaktion auf die überzeugenden Beschreibungen in den Meditationen über das Tarot war, einer Organisation beizutreten, die die spirituelle Welt so widerspiegelte, wie ich sie aufgrund der Kultur, in der ich aufgewachsen bin, verstand. Jetzt frage ich mich, wie wir uns von diesem Bild befreien können, das uns schon seit lange vor der „biblischen Zeit“ eingeprägt wurde. Die Pharaonen, später dann legendäre Könige wie David und Salomo, griechische und römische Kaiser, von denen sich viele für göttlich erklärten, häuften obszöne Reichtümer an, indem sie das gemeine Volk ausbeuteten und ihm mit Bestrafung, Folter und Tod in diesem Leben drohten, oder Religionen, die das Geschäftsmodell erfanden, die Erlösung von der ansonsten garantierten Verdammnis zu vermitteln, während sie gleichzeitig den Liebesdienst für einen Gott in der Religion oder die Liebe und den Dienst (sogar bis zum Tod) für eine Nation in der Farce des Patriotismus predigten.

Ich kann mir zwar vorstellen, dass das einfache Patriarchat (die hierarchische Struktur der männlichen Überlegenheit gegenüber dem weiblichen Geschlecht) irgendwann überwunden werden könnte, aber es fällt mir schwerer, mir vorzustellen, dass das uns weniger bewusste Konzept der spirituellen und säkularen Hierarchie überwunden werden könnte, das seit vielen tausend Jahren Teil der archetypischen Einprägung unserer Kultur ist und länger als das „einfache“ Patriarchat besteht.

Ab und zu, hier und da, begegnen wir Mystikern, die versucht haben, dieses einfache, egalitäre Ziel zu erreichen, manchmal nur für sich selbst, manchmal aber auch, um andere zu ermutigen, eine egalitäre Lebenseinstellung zu entwickeln. Sie sind Manifestationen des „kleinen Funkens“, von dem Meister Eckhart berichtet, dass er in jedem und allem lebt.

Gedankensplitter zum Nachdenken (2023-12-10)

Heute hat Peter Spörri auf Facebook auf diese neuen Gedankensplitter aufmerksam gemacht. Ich habe dann weitergelesen über die Erbsünde. Eine Antwort auf den Artikel Erbsünde, ein zu entsorgender Begriff hatte ich vor etwa zwei Jahren in meinen Musings about Theology #5 (theologische Überlegungen) geschrieben. Seither habe ich ein paar Sachen dazugelernt, meine aber, dass der Artikel wie auch meine Überlegungen als Denkanstoss dienen können. Zuerst aber zu (Beginn der Kopie)

Theologische Gedankensplitter

Wahrscheinlich zur Nazizeit (leider sind seine Predigten ohne Zeitangabe), als viele für die Kirchen Durchhalteparolen ausgaben, predigt der Alttestamentler Gerhard von Rad über die Vision in Ezechiel 37, wo die toten Gebeine (der Gemeinde?) auferstehen. Auf die Frage Gottes, ob er glaube, dass diese auferstehen könnten, gibt der Prophet eine überraschende “Antwort”, zu der Gerhard von Rad folgendes schreibt:

Darum ist dieses: „Herr, das weisst du wohl“, das aussieht, als sei es weder Nein noch Ja, ein Wort wirklichen Glaubens, weil es die ungeheure, unbeantwortbare Frage wieder zurück in Gottes Hände legt. Es ist ein bescheidenes demütiges Wort, von dem zu lernen uns wohl anstünde. Ja, wenn wir das auch vermöchten, unsere Dinge so Gott anzubefehlen, unsere Nöte hätten dann eine grosse Verheissung! (Ende der Kopie)

Augustinus ist wahrscheinlich der meistzitierte und produktivste Theologe des Christentums. Er gilt als “Kirchenvater und Lehrer”. Eckhart zitiert Augustinus in einer Predigt über Lukas 14,16: “Was über Gott gesagt wird, ist nicht wahr, und was nicht über ihn gesagt wird, ist wahr. Was immer man sagt, dass Gott ist, ist er nicht, und was immer man nicht über ihn sagt, ist wahrer als das, wovon man sagt, dass es Gott ist.” (Augustinus, De Trinitate, VIII, 2,3)

Gott weiss. Und wir wollen es ums verrecken auch wissen, was Gott weiss.  Zu wissen, dass wir nicht wissen, wäre viel gesünder. In gewissem Masse sehe ich Menschen wie Augustinus und Eckhart als weise Agnostiker. Dass Augustinus den Begriff der Erbsünde schuf, würde er wohl sehr bereuen, wenn er wüsste, welchen Unfug mit diesem Begriff über die Jahrhunderte getrieben wurde. Das überlegt sich auch Peter Spörri im folgenden Artikel: http://www.download.peterspoerri.ch/Erbs%C3%BCnde.pdf

Überlegungen zu einem umstrittenen Begriff und Gedanke

Erbsünde – ein zu entsorgender Begriff?

Denkanstöße übersetzt von Musings #5

Biblische Stolpersteine

Die Bibel ist für Menschen, die erforschen wollen, worum es in ihr geht, nicht leicht zu lesen. Der einfache Teil ist, dass man sie als historisches Dokument darüber lesen kann, wie die Menschen vor 2-3 tausend Jahren dachten. Es gibt Gesetze, die die Menschen in ihrer Lebensweise leiten. Es gibt Mythen und Legenden über Dinge, die sich auf die eine oder andere Weise zugetragen haben könnten, und Geschichten, die zu erklären versuchen, wie die Welt, in der sie lebten, zustande kam. Einige von ihnen können auch als Lehrgeschichten verwendet werden. Ich glaube, wie in Musings Nr. 3 erwähnt, dass die beiden unterschiedlichen Schöpfungsgeschichten darauf hinweisen sollen, dass die Bibel nicht wörtlich zu nehmen ist. Wenn man dies bedenkt, fällt es einem vielleicht leichter, diese Bücher zu lesen, ohne alles als Unsinn oder gar Müll zu verwerfen.

Zahlreiche Geschichten und Gesetze sind jedoch Unsinn oder Müll, wenn nicht sogar toxisch. Einige von ihnen wurden seit Jahrhunderten aus den liturgischen Lesungen, die bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil gelesen wurden, herausgenommen. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde die Liste der liturgischen Lesungen in den protestantischen und katholischen Konfessionen von einem einjährigen auf einen dreijährigen Zyklus ausgeweitet, um eine breitere Auswahl an Bibelstellen zu berücksichtigen. Leider haben reformierte Kirchen fundamentalistischer Prägung viele der toxischen Texte beibehalten, die selbst im Dreijahres Zyklus noch ausgelassen werden, um ihre selbstgerechten und verurteilenden Tendenzen zu nähren. Die Regel des heiligen Benedikt schlägt vor, bei den Abendlesungen die ersten sieben Bücher und die beiden Bücher der Könige des Alten Testaments zu vermeiden, weil “es für die Schwachen nicht nützlich wäre, diesen Teil der Schrift zu dieser Tageszeit zu hören…” (Regel, Kapitel 42). Das sind die Teile mit den Geschichten und Gesetzen, gegen die ich oft wettere.

Oft werden Stimmen laut, die fordern, diese Texte zu verbieten oder zu streichen, wenn nicht gleich die ganze Bibel. Ich habe auch öfters mit diesem Gedanken gespielt, bin aber zu dem Schluss gekommen, dass dies keine gute Idee ist. Sie könnte wie Weißwäscherei wirken, die späteren Generationen den Eindruck vermittelt, dass alles, was aus der Religion kommt, gut ist. Wir wissen, dass dies nicht der Fall ist. Die Geschichte zu revidieren, um einen kulturellen Trend zu befriedigen, ist keine gute Idee.

Auch wenn wir wissen, dass wir einige Texte zu Recht als Giftmüll bezeichnen sollten und es damit zu belassen, werden wir immer noch über Dinge und Worte stolpern, die schwer zu schlucken sind. Ich werde versuchen, drei Wörter, die vielen Leuten auf den Nägeln brennen, mit einer Interpretation anzugehen, die es den Lesern leichter machen könnte, einen Wert in den Geschichten zu finden; denn ist das nicht der Grund, warum wir uns auf eine Suche nach Sinn einlassen, um eine gute Erfahrung zu machen?

Drei Worte oder Konzepte, über die ich jahrelang gestolpert bin, sind: Gott, Sünde und das auserwählte Volk Israel. 

Über Gott habe ich in Musings #1 geschrieben. Ich möchte über die Attribute diskutieren, die Gott zugeschrieben werden (da ja auch Meister Eckhart predigt, dass es eine Beleidigung für Gott ist, ihm Eigenschaften zuzuschreiben):

Liebe ist schwer zu schlucken, wenn man an die gnadenlosen Strafen denkt, die der Bibelgott der Menschheit verabreichte und versprach. Barmherzig, offenbar nicht immer. Allmächtig, nun ja, warum gibt es Böses und Elend, wenn Gott Liebe ist? Dasselbe gilt für allmächtig. Ich werde nicht die ganze Liste aufzählen. Der Leser wird an seine eigenen Stolpersteine denken. Was diese Attribute gemeinsam haben, sind ihre moralischen Eigenschaften, ob gut oder schlecht. Ich glaube nicht, dass man Gott mit solch menschlichen Attributen vereinfachen kann.

Das einzige Attribut, das ich rechtfertigen kann, ist das Schöne. Wahre Schönheit ist neutral, weder gut noch schlecht, sie ist, was sie ist. “Ich bin der (was?) ich bin”, sagte Gott zu Moses. “Gott ist das Schöne” (God is beauty), so lautet die Schlussfolgerung einiger großer Mystiker.

Der Irische Mystiker John O’Donohue definiert Erbsünde als den Verlust des Sinns für das Schöne. Wenn die Heilige Schrift und die Lehren über Sünde sirachen, möchte unser Verstand abschalten. Wenn verurteilende Fundamentalisten über Sünde schwadronieren, sollte unser Verstand abschalten, da hilft nur noch Mitleid, denn mit Idioten zu streiten bringt wenig. Die Erbsünde kam mit dem Sündenfall. Adam und Eva verloren den Sinn für das Schöne ihrer eigenen Schöpfung und bedeckten ihre ‘besten’ Teile. Liebe wurde durch Lust ersetzt (ich werde Lust nicht definieren!). Die Bewahrung der Schöpfung wurde zu Ausbeutung umgedeutet (macht euch die Erde Untertan). Schauen Sie sich die industrielle Forstwirtschaft und Landwirtschaft, den Bergbau, den Krieg usw. an, und Sie werden einen tiefgreifenden Verlust des Sinns für das Schöne feststellen. Sünde ist nicht die Nichtbeachtung religiöser Gesetze per se, vor allem wenn diese Gesetze selbst Beispiele für den Verlust des Schönheitssinns sind. Vielleicht hilft dies dem Leser, dieses Schlüsselwort Sünde besser zu verstehen.

Gottes auserwähltes Volk Israel ist ein ziemlich belasteter Begriff, besonders jetzt, wo wir beobachten, was mit dem neuen Staat Israel geschieht. Der ursprüngliche Israel wurde Jakob genannt. Die Geschichte erzählt, dass Jakob auf seinem Heimweg mit einem Engel (oder Gott) rang. Jakob hielt den Engel im Schwitzkästchen und wollte ihn nicht loslassen, bis der Engel ihn segnete. Der Engel segnete Jakob und gab ihm den Namen Israel, was so viel bedeutet wie “der, der mit Gott ringt”, und Israel ging hinkend davon, wie so viele von uns nach unseren inneren Kämpfen. Das sagt uns wohl, dass sich Gott keine unterwürfigen Schmeichler auswählt, die vor ihm buckeln und sich beugen. Gott erwählt diejenigen, die mit ihm ringen. Wenn wir das Magnificat (Lukas 1,46-55) lesen oder singen: “Gott kommt Israel zu Hilfe” (Vers 54), dann bedeutet das, dass Gott denen helfen will, die mit dem Gedanken oder dem gegebenen Konzept von Gott ringen, so wie es der heilige Augustin und viele ernsthafte Theologen oder Mystiker taten.

Gott als das Schöne zu betrachten, die Sünde als Verlust des Sinns für das Schöne und Israel für diejenigen, die mit Gott ringen, hat mir geholfen, nicht leer zu schlucken, wenn ich diese Worte als Kantor während der Messe oder Vesper singen musste.